Toleranz – Gleichgültigkeit – Liebe
Es ist gut, an frühere Zeiten zu denken. Es ist gut, weil man klüger und vorsichtiger wird, wenn man sich geschichtskundig macht. Georg Wagner ist ein landläufiger Name. Schon vor 500 Jahren gab es einen Mann dieses Namens, der sich heute im ökumenischen Heiligenlexikon sowie im evangelischen Namenskalender findet. In diesem Jahr erinnern wir uns an die Aufstände der Bauern in etlichen Gebieten Deutschlands. Besonders die Stadt Memmingen gedenkt daran, wo die „Zwölf Artikel“ der Bauernschaft verfasst wurden, die als eine der ersten niedergeschriebenen Forderungen nach Menschen- und Freiheitsrechten in Europa gelten. Das Jahr 1525 ist aber auch mit der Täuferbewegung verbunden, die sich als dritte Strömung der Reformation im 16. Jahrhundert über viele Teile Deutschlands, der Schweiz und der Niederlande ausbreitete.
Georg Wagner ist diesen täuferischen Strömungen zuzurechnen. Er war zunächst römischer Priester in Emmering in Oberbayern, bis er sich einer „Brüdergemeinde“ anschloss. Er widersprach einigen üblichen Auffassungen von Taufe und Abendmahl. Im Jahr 1524 stand in Oberbayern nicht nur das Verbreiten reformatorischer Schriften, sondern sogar das Lesen der Bibel unter Todesstrafe. Er wurde wegen „evangelischer Predigt“ angeklagt und 1526 in das damalige herzogliche Gefängnis im Münchner Falkenturm gesteckt. Der Herzog besuchte ihn dort und versuchte, ihn zum Widerruf zu bewegen, versprach ihm lebenslange Pfründe. Doch Georg Wagner blieb, auch unter Folter, bei seinem Bekenntnis und wurde zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Seine große Gefasstheit auf dem Weg zum Richtplatz am 8. Februar 1527, also vor 498 Jahren, muss in eindrücklicher Erinnerung geblieben sein.
So unverständlich uns der Vollzug der Todesstrafe in solchen Angelegenheiten heute erscheinen mag: Es hat leider noch vieler solcher Ereignisse gebraucht, bis wir daraus gelernt haben. Im Jahr 2010 hat die Lutherische Kirche offiziell ihren Schmerz über die Verfolgung der Täufer durch lutherische Obrigkeiten ausgedrückt und die mennonitischen Gemeinden um Vergebung für das zugefügte Leiden gebeten. Ähnliche Schritte geschahen in den letzten Jahrzehnten in den Beziehungen zwischen römisch-katholischer und lutherischer Kirche. In jenem Beschluss des Lutherischen Weltbundes von 2010 heißt es, dass wir bekräftigen wollen, dass „der Gebrauch der Staatsgewalt zum Ausschließen oder Aufzwingen bestimmter religiöser Überzeugungen zu verwerfen ist“ und dass wir uns „dafür einzusetzen, dass Religions- und Gewissensfreiheit in den politischen Ordnungen und in den Gesellschaften gewahrt und aufrechterhalten werden.“
Mir scheint das Lernen von solcher Toleranz nicht abgeschlossen zu sein. Wir alle haben es im Zusammenleben im privaten wie im öffentlichen Raum mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Auffassungen zu tun. Toleranz bedeutet wörtlich, dass ich es „ertrage“, dass neben mir gleichberechtigt andere Überzeugungen vertreten werden dürfen. Weiter noch als Toleranz geht die (Nächsten-)Liebe. Sie sieht in jedem Mitmenschen ein besonderes und geliebtes Geschöpf Gottes. So gibt die Liebe die Kraft zu gelebter Toleranz, selbst wenn die Meinungsunterschiede noch so groß erscheinen. „Die Liebe erträgt alles, sie duldet alles, sie hofft alles.“ (1. Korintherbrief)
Ihr Till Roth, Evang. Dekan in Lohr a.Main